12. Reißbrett

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= Telegramm =
Versandart: Rohrpost
Zielland: Sarkorska
Absender: Korrektorat, Abteilung 3 - Wissensbeschaffung, Fabian Mond
Zu Händen: Korrektor Richard Thal

Hi Richard,

aufgrund der Dringlichkeit des Auftrags habe ich den nächsten Express am Montag für dich reserviert, zwei Abteile. Die Türen des tropfenden Schlüssels stehen dir wie gehabt offen.

Die diplomatischen Kanäle hier glühen. Du wirst also durch alle Ringe hüpfen müssen. Bereits direkt nach der Ankunft wartet der Generalsstab samt Premierminister von Hardon. Die haben es noch eiliger als wir.

Zu allem Überfluss sind unsere Ohren verstummt ...

Schreib mir bitte, wer dich begleiten wird. Die Gegenseite will vorbereitet sein.

Gez. Mond

= Ende =

= Telegramm =
Versandart: Rohrpost
Zielland: Sarkorska
Absender: Penélope Sand
Zu Händen: Richard Thal

Mein lieber Richard,

ich kann es kaum erwarten. Mich treibt die Arbeit hier von Türklinke zu Türklinke. Mit dem Schlüssel zu meinem Herzen findest du mich schon, auch wenn ich durch den Wind bin. Denn auch hier braut sich gerade ein Gewitter zusammen.

In Liebe
Penélope

= Ende =

Robert und Leon lasen die Telegramme ebenfalls. Durch die Fenster meines Arbeitszimmers fiel die vom Schnee reflektierte Morgensonne. Robert hatte sich in eine dicke waldgrüne Wollstrickjacke gewickelt. Sie passte ausgesprochen gut zu seinen kurzen, braunen Haaren. Leon war von der niedrigen Raumtemperatur unterdessen unbeeindruckt und trotzte ihr in einem grauen T-Shirt. Ich selbst trug ein mitternachtsblaues Hemd und eine grau, karierte Stoffhose. Diese verbargen Kompressionsunterwäsche, welche mich wie eine Presswurst zusammenhielt. 

"Fabin Mond leitet das Referat, bei dem ich im Korrektorat eingesetzt bin", erklärte ich. "Auf seine Vorbereitungen können wir uns verlassen. Das Hotel, der tropfende Schlüssel, wird unsere Basis sein."

"Was hältst du davon, dass sich keine der stationierten Korrektoren melden?", fragte Leon geradeheraus.

Ich legte meinen Kopf in den Nacken. Blick zur Decke. "Das kann verschiedene Gründe haben. Ich glaube, man will uns isolieren."

"Wer?", fragte Leon.

Ich nickte wieder nach vorn. "Das ist die Frage, nicht wahr?"

Es klopfte unvermittelt an der Tür. Ohne auf eine Reaktion zu warten, trat Julius ein. Zur Ausnahme trug er keinen klinisch weißen Kittel. Stattdessen schaute ein weißer Hemdkragen aus einem karminroten Pullover mit Schneeflockenstrickmuster hervor. Für einen Langschläfer machte er einen sehr aufgeweckten Eindruck auf mich.

"Ich bin so frei, mich reinzulassen", sagte Julius unverblümt.

"Scheint so. Wie kann ich dir helfen?", fragte ich.

"Oh, Richard." Er setzte sich zu den anderen beiden an den Tisch. "Du hast mich an der Backe, bis ich Antworten hab. Wenn ich dir dafür nach Hardon folgen muss, ist mir das einerlei."

"Wunderbar. Dann sind wir ja vollzählig."

Sein Blick wechselte verwundert zwischen mir, Robert, Leon und dem Tisch hin und her. Mehrere Telegramme, eine Karte von Hardon, ein Überblick über das dortige Parlament und die verschiedenen Fraktionen lagen ordentlich und doch verstreut in ihren Häufchen herum. Zu guter Letzt waren dort auch vier Zugtickets. Eines für jeden am Tisch. Fabian hatte pro Forma eine Schätzung gemacht.

"Ha, eine Uniform hast du nicht auch noch, oder?"

Ich lehnte mich zur Seite. Hinter mir auf dem Schreibtisch lagen vier Stapel sauber gebügelte Uniformen der Korrektoren. "Da wir durch die offiziellen diplomatischen Kanäle müssen."

Ihm war sichtlich der Wind aus den Segeln genommen. "Häm, gut. Ja, äh ... Wo stehen wir?"

"Gelinde gesagt, sieht es nicht gut aus." Ich lehnte mich zurück und kratzte an meiner Nase. Ich war seit heute Morgen verschiedene Zeitungen und Berichte der letzten Monate durchgegangen. Hammthal hatte sie freundlicherweise gesammelt und vorgefiltert.

"Die Palingenese eines Seelendämons, also seine Geburt, ist ein Jahrhundertereignis. Noch dazu eines, welches das fragile Machtgefüge ins Wanken bringt. Mit dem Scheitern der ersten Mission dürfte so ziemlich jeder darüber Bescheid wissen, der es wissen will."

"Außer der Öffentlichkeit", ergänzte Leon trocken.

Ich nickte. "In Hardon ringen allein vier Fraktionen innenpolitisch um die Macht. Dazu müssen wir mit Raktaran rechnen. Und wir sollten auch keine Hoffnung auf Unterstützung des Korrektorats setzen."

"Warum denn das nicht? Wir sind doch dort - als Korrektoren", fragte Robert.

"Ja ... auf einer vermeintlich aussichtslosen Mission. Was sechs Korrektoren als Team nicht konnten, sollen wir bewältigen", antwortete ich.

"Du", korrigierte Leon.

"Was'n nu los?" kommentierte Julius meine Zusammenfassung. "Du ziehst dir doch sonst irgend'n Plan aus'm Arsch."

"Sicher, sicher. Dafür ist er auch angekohlt noch gut genug. - Zurück zum Reißbrett. Für uns relevant ist folgendes: Jeder wird Augen auf uns haben. Niemand ist bisher an den neuen Seelendämon herangekommen. Warum auch immer. Egal ob ich es kann oder nicht, alle werden denken, dass ich es kann."

"Klingt jetzt nicht nach einem Plan", kommentierte Julius.

"Was hat's eigentlich mit der übereifrigen Penélope auf sich?" platzte Robert dazwischen. Er knabberte sich nervös an seinem linken Daumen.

"Übereifrig?" Julius schnappte sich die obersten Telegramme und blätterte sie durch. "Uh, oh. Ihr schmachtet euch aber an. Und was das - eine Frau auch noch! Fährst du neuerdings zweigleisig? Wohl doch kein einfach gestrickter Bürohengst, hhm."

Ich atmete tief ein und langsam wieder aus. "Ich sag’ dazu nichts - einfach weil ich's kann."

"Na was, ein Rückzieher? Und dann hier alles offen auslegen."

Ich räusperte mich. "Alsooo, wenn wir in Hardon sind, haben wir drei Herausforderungen zu lösen. Welchen Handlungsspielraum gibt uns die aktuelle Regierungsfraktion von Hardon? Wie kommen wir an den Seelendämon heran? Und wie stoppen wir mein Sterben?"

Ich hielt einen Moment inne. Dann sprach ich weiter. "Leon, kannst du dich noch an Katharina Salberg erinnern, die Generalin?"

"Kann sie dich heilen? Die anderen Heiler konnten es nicht."

"Nun nicht allein." Ich schaute zu Julius. Seine Augen weiteten sich.

"Junge. Junge. Junge. Ich bin Pathologe. Ich hab dich zwar schon zusammengeflickt. Aber ich arbeite mit Kadavern. Du weißt schon, Leichen, leblos, kalt."

"Klingt genau wie die Berufsbeschreibung, die ich im Kopf hab. Ihr werdet euch blendet ergänzen. Wenigstens am Skalpell."

"Oh, Scheiße. Junge, das willst du nicht."

"Du packst das." Es liegt nur unser Leben und der Frieden des Kontinents in deinen Händen. Der Tod eines Seelendämons in der Hauptstadt von Hardon wäre ein Spektakel. Da muss man dabei gewesen sein.

"Was werde ich machen? Wo kann ich überhaupt helfen?", schaltete sich Robert ein. "Ich war gestern sehr ambitioniert und steif und fest darauf aus, euch zu begleiten. Aber ... Das sieht mir wie eine Nummer zu groß aus."

Ich lehnte mich nach vorn. Verschränkte vor mir meine Finger ineinander. "Solange du nicht im Zug sitzt, kannst du noch jederzeit aussteigen. Ich werde dich nicht anlügen. Es sieht mies aus. Wenn du mitkommst, werde ich eine Aufgabe für dich haben. Unser Pathologe hier versteht zwar was von Körpern und Flammenorganen, aber neben mir hast du das meiste wissenschaftliche Verständnis. Den Ehrgeiz dich durch Haufen von Material zu arbeiten und selbst dann noch komplexe Zusammenhänge zu verstehen." So berichtete mir Hammthal.

"Ich versuch’ das mal nicht persönlich zunehmen", meinte Julius mit zusammengekniffenen Augen.

"Ich überlege es mir", sagte Robert. "Wenn du scheiterst, was wird dann ..."

Ich deutete ein Kopfschütteln an.

Sein Blick wanderte auf den einzelnen verbliebenen Holzscheit im Kamin. Er ragte heraus aus einem Häufchen Asche. Ein Flämmchen Hoffnung in einem See aus Elend. Am Ende kehrt doch wieder alles in die Arme der Mutter des Nichts zurück. Zerfällt zu Staub und endet ab in ihrem Schoß.

Für die nächste Stunde kaute ich Ihnen ein Ohr ab, über Etikette, über die Fraktionen in Hardon. Das Wahren des eigenen Rangs hatte eine besondere Bedeutung in Hardon. Er wurde durch Insignien, militärischem Rang und schließlich auch dem Rang der eigenen Angestellten ausgemacht. Der niedrigere Rang hatte sich im Zweifelsfall unterzuordnen.

"Es gilt, Nägel mit Köpfen zu machen. Abreise ist morgen früh um acht", endete ich meinen Monolog.

Julius und Robert gingen mit ihrem Uniformstapel. Mürze war sich sehr sicher, die richtigen Größen abgeschätzt zu haben. Matrosen einkleiden, eine Kleinigkeit.

"Was wirst du mit den beiden machen, wenn es ernst wird?", fragte Leon mich lesend.

"Ich weiß noch nicht, was besser sein wird - Sie heraushalten und allein warten lassen oder sie an unserer Seite haben und schützen."

"Die sechs Korrektoren. Sie waren Anwärter fürs Corrigendum."

"Ja."

"..." Er schaute mir in die Augen.

"Möchtest du mir etwas sagen?", fragte ich nach einem Moment.

"Nein, das hat Zeit. Du hast dich schon entschieden. Ich pack’ lieber noch einen zweiten Koffer. Als Schild sollte ich entsprechend ausgerüstet sein."

"Ok." Etwas blieb unausgesprochen. Ich wollte nichts lieber, als nachzubohren. Doch Leon würde jede Nachfrage zu dieser Stunde ins Leere laufen lassen. Was ihm wohl aufgefallen war? "Danke."

"Dafür nicht."

Neben den Akten auf dem Tisch lag eine weitere Spritze. Wann hatte Julius denn die abgelegt?

Ich schob es auf meinen Monolog und machte mich auf den Weg ins Archiv. Ein anderer Seelendämon wartete auf seine Belohnung. Und Kinder sollte man nicht warten lassen, wenn man ihr quengeln nicht ertragen kann.

< ... >
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< Befragungsraum >

Wilhelm Stark: "Hat dieser Schweinehund gerade die Preisgabe von Informationen unterdrückt?"

Magnus Leupold: "Weil er eine Stunde Konversation zusammengefasst hat?"

 

Magnus Leupold: "Hey!"

Wilhelm Stark: "Lass mein Handgelenk los."

Magnus Leupold: "Was hast du vor? Ihn während der Erinnerungsextraktion verprügeln? Wem ist damit geholfen?"

Wilhelm Stark: "Wir können nicht wissen, ob es bei ihm nicht vielleicht doch funktioniert. Als Mischwesen reagiert er bestimmt anders als normale Menschen."

Magnus Leupold: "Hast du vergessen, warum wir hier sind? Wir können es uns nicht leisten, die Kontrolle über noch einen Seelendämon zu verlieren!"

Diese Geschichte schließt an Operation Sublimierung an. Siehe hierfür: https://www.worldanvil.com/community/manuscripts/read/2223665389-midnightplay-operation3A-sublimierung
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